










Was für ein Beginn! Verwaschene Impressionen aus dem Kneipenleben, fast schwarz-weiß, wie im Vorbeigehen aufgegriffen, dazu aus dem Off sorgsam gesetzte O-Töne, eine rauchgeschwängerte, angenehm-betriebsame Atmosphäre: ganz das Milieu, das dem Leser von Sven Regeners Kreuzberg-Roman „Herr Lehmann“ bei der Lektüre vorschwebte. Dem Leadsänger der Berliner Band „Element of Crime“ gelang mit seinem Debüt als Schriftsteller im Jahr 2000 ein Überraschungserfolg, weil er den melancholisch-gelassenen Gestus seiner Lieder auch ins Literarische zu transponieren wusste. Doch dieses Kunststück eines nostalgisch-ironischen Rückblicks auf eine verlorene Zeit misslingt in der filmischen Adaption; lediglich der lakonisch-verquere Humor der Hauptfigur kommt dem Geist der Vorlage nahe. Darin wird von einem beschaulichen Biertrinker und Barmann erzählt, der Herr Lehmann gerufen wird, weil er bald 30 Jahre alt wird und sich seinen Kopf auch im angetrunkenen Zustand gerne mit sprachphilosophischen Grübeleien zerbricht. Wenn er nicht im „Einfall“ in der Wiener Straße in Kreuzberg hinter dem Tresen steht, hängt er in der „Markthalle“ ab, wo sein Freund Karl bedient und wo Herr Lehmann auch der „schönen Köchin“ Katrin begegnet, die sein Herz in Flammen setzt. Dass in seinem Leben und dem seiner Stammgäste unaufhaltsame Änderungen bevorstehen, ahnt er seit Wochen: Seine Eltern haben sich zum Besuch angekündigt, ein bis dato unbekannter Kristallweizen-Trinker sorgt für Unruhe, und auch Karl wirkt immer öfters abwesend. Doch noch will der Sommer des Jahres 1989 nicht weichen; wie gefährlich es jenseits der Mauer wirklich brodelt, nimmt in Herrn Lehmanns tranigem Universum niemand zur Kenntnis. Selbst am 9. November, Lehmanns rundem Geburtstag, reibt dieser sich ungläubig die verquollenen Augen, als er im Fernsehen die Bilder vom nächtlichen Tanz auf der Mauer sieht.
Der Absturz des Films ist nicht nur eine Frage des literarischen Vergleichs. Schon mit dem Wechsel zur Farbe verliert er an Überzeugungskraft; die erste richtige Szene der Begegnung Herrn Lehmanns mit einem streunenden Hund wirkt künstlich und seltsam „inszeniert“, ohne dass man dies für ein Wahngebilde halten oder als ästhetischen Bruch interpretieren könnte. Ganz im Gegenteil: Wenn es um Träume oder Fantasien geht, wählt Leander Haußmann explizite Formen wie einen Fotoroman im Schnelldurchlauf oder theatralisch-pointierte Einschübe. Dicht ist der Film nur in den Dialogen, wenn die Kamera nahe bei den Figuren weilt, und in den wenigen Episoden, die wie Kurzfilme aufgebaut sind. Das Männergespräch am Tresen etwa, in dem die Frage nach dem Kristallweizentrinker als Running Gag fungiert, könnte getrost als Trailer eingesetzt werden, so stimmig und in sich geschlossenen ist es strukturiert. Solches aber geht auf Kosten des Gesamtzusammenhangs, weshalb der Film kaum von der Stelle kommt. Das ist zwar auch inhaltlich motiviert, weil das Kreuzberger Biotop als entrückt-narkotisiertes Paralleluniversum beschrieben wird, dessen Bewohner nicht erwachsen werden wollen. Doch was eine spannende Replik auf die legendären Kreuzberger Nächte und die linken Mythen der späten 1980er-Jahre sein könnte, verpufft in Belanglosigkeit. Dagegen vermag auch der souveräne Hauptdarsteller Christian Ulmen nicht anzuspielen, der seine Kneipenfigur witzig-sympathisch und nur dezent regressiv gestaltet. So unpolitisch und zeitvergessen, wie bei Haußmann die Generation der heute 45-Jährigen erscheint, die sich Ende der 1970er-Jahre der Wehrpflicht durch die Flucht nach Berlin entzogen, kann diese nie gewesen sein. Die Referenz an George Lucas‘ „Krieg der Sterne“ erweist sich deshalb als Bumerang: Sie verrät mehr von der Infantilität einer ratlosen Gegenwart als vom Niedergang der Berliner Sponti-Szene. Dass die Kapitulation des SED-Regimes auch die Mauer um Kreuzberg zum Einsturz brachte, mag historisch korrekt sein; daraus aber ein Bild für einen mentalen Epochenwechsel stilisieren zu wollen, verdeckt gerade das, was es zu verstehen gelten würde: die Implosion der linken Utopien.
(Kritik aus film-dienst Nr. 20/2003)
Christian Ulmen | Herr Lehmann |
Detlev Buck | Karl |
Katja Danowski | Katrin |
Janek Rieke | Kristall-Rainer |
Annika Kuhl | Heidi |
Hartmut Lange | Erwin |
Martin Olbertz | Marco |
Uwe Dag Berlin | Jürgen (as Uwe-Dag Berlin) |
Michael Beck | Klaus |
Michael Gwisdek | Der Trinker |
Stephan Baumecker | Kiffer |
Tim Fischer | Sylvio |
Karsten Speck | Die Lederuschi |
Margit Bendokat | Mutter Lehmann |
Johann Adam Oest | Vater Lehmann (as Adam Oest) |