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Lilja 4-Ever
(2002)
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Stars: Oksana Akinshina, Artyom Bogucharsky, Lyubov Agapova, Liliya Shinkaryova, Elina Benenson
Director: Lukas Moodysson
Writer: Lukas Moodysson
Language: German
Studio: SUNFILM Entertainment
Duration: 104
Rated: 12
DVD Release: November 2004

Lukas Moodysson („Raus aus Amal“, fd 33 978; „Zusammen!“, fd 34 776) wagt sich mit einiger Vehemenz auf Lars-von- Trier-Gelände: Wo dieser in den letzten Einstellungen von „Breaking the Waves“ (fd 32 145) und „Dancer in the Dark“ (fd 34 476) fast übermütig einen „göttlichen Blick“ aufs Geschehen oder das Verlassen des Körpers durch die Seele simulierte, wagt es Moodysson, aus Verzweiflung geborene kindlich- religiöse Erlösungsfantasien unvermittelt und bruchlos an Szenen voller drastischen Realismus anschließen. „Lilja 4-Ever“ ist ein hartes, grausames Melodram, oft unerträglich und empörend, dann wieder voller Poesie. Was sich nicht auf den martialischen Rammstein- Song „Mein Herz brennt“ bezieht, der lautstark am Anfang und am Schluss erklingt, wenn man Lilja verzweifelt durch die Peripherie von Malmö irren sieht – auf der Suche nach einem Ort zum Sterben. Mit den Aporien, in die sich Moodysson verstrickt, hat der Rammstein-Song allerdings sehr wohl zu tun. „Lilja 4-Ever“ handelt vom vollständigen Zusammenbruch des Sozialen in der ehemaligen Sowjetunion und wohl auch in Schweden – und vielleicht auch von der „Mildtätigkeit Gottes“, selbst wenn, wie Moodysson sagt, „Gott niemals auf Liljas Gebete antwortet“. Der Mühe, diese „Mildtätigkeit“ zu imaginieren, müssen sich die Zuschauer wie die Protagonisten des Films – die 16-jährige Lilja und der elfjährige Volodya – allerdings selbst unterziehen. Hier geht es folglich um eine mögliche Sinnstiftung im Schrecken, trotz des Schreckens und gegen den Schrecken. Gleich zu Beginn wird die etwas aufsässige Lilja von ihrer Mutter im Stich gelassen, die mit ihrem neuen Liebhaber in die USA verschwindet, raus aus der Tristesse des Postkommunismus. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Mutter und ihr schweigsamer Freund Lilja hinhalten, indem sie versprechen, sie später nachzuholen, ist fast schon von groteskem Humor geprägt. Obwohl: Hier von „im Stich lassen“ zu sprechen, operiert mit einer Normalität von Rollenzuschreibungen, wie sie in der Welt, die Moodysson zeichnet, nicht (mehr) existiert. Hier herrscht „Wolfszeit“, wie sie auch Michael Haneke in seinem Film beschwört: ein forcierter Egoismus, dem die das Soziale stabilisierende Werte wie „Familiensinn“ oder „Freundschaft“ bestenfalls als hinderlich ins Bewusstsein treten. Mit der Mutter verliert Lilja ihren letzten Schutz; ihre zunächst trotzig genossene Freiheit ist demgegenüber trügerisch. Schuleschwänzen und laute Partys sind zwar noch ganz okay, doch dann wird Lilja von ihrer Tante aus der Wohnung geworfen und in ein heruntergekommenes Loch verfrachtet. Anschließend macht sie ihre beste Freundin zum Sündenbock für ihr eigenes, (noch) negativ sanktioniertes Verhalten und gilt fortan auch unter den Jugendlichen als „vogelfrei“. Schließlich fällt sie auf den sympathischen Andrei herein, der sie an einen Zuhälterring in Schweden „vermittelt“. Dort wird sie in einem Apartment gefangen gehalten, geschlagen, vergewaltigt, erniedrigt und namenlosen schwedischen Männern zur Realisierung ihrer sexuellen Fantasien überlassen. Einziger Kontrapunkt innerhalb dieser „Tour de passion“ ist Liljas „reine“ Freundschaft zum elfjährigen Volodya, der unter seinem prügelnden und saufenden Vater leidet und bei Lilja Geborgenheit sucht. Gemeinsam verbringen sie die Nächte in Liljas Wohnung, reden und wärmen einander. Als sich Lilja schließlich prostituiert, hat sie endlich das Geld, um Volodyas größten Wunsch zu erfüllen. Doch als sie nach Schweden fährt, wiederholt sich ihre Geschichte: Sie schwört, Volodya nachzuholen, doch dieser ist weniger naiv als es Lilja war.
Liljas Weg – wie der ihrer Mutter im Zeichen der „Liebe“, wie diese den ihr Nächststehenden zurücklassend – führt ins „paradiesische“ Schweden, in eine Trabantenstadt am Rande Malmös, die sich kaum von der Stadt unterscheidet, aus der sie kommt. Hier beginnt der zweite Teil ihres Leidensweges, an dessen Ende Lilja mehr und mehr die Einsicht gewinnt, dass Selbstmord gegenüber diesem Leben eine echte Alternative ist. Moodysson findet auch für diesen „Lernprozess“ einprägsame Bilder voller kindlicher Naivität: Volodya erscheint Lilja als Engel und schwärmt von einem besseren Leben. Schließlich lässt sich Lilja überzeugen.

Religion ist das Opium des Volkes; von Veränderung redet niemand, sie scheint nicht einmal mehr denkbar. Seine empörende Wucht verdankt der Film einer geradezu grotesken, holzschnittartigen Schwarz-weiß-Zeichnung der Figuren. Gut oder böse – tertium non datur! Auf das offenkundig lückenlos funktionierende System der Ausbeutung antwortet unvermittelt die Flucht-Utopie der Kinder, die allerdings lediglich postuliert wird. Hoffentlich ist Moodyssons eigenes Weltbild etwas differenzierter als die Geschichte, die er mit „Lilja 4-Ever“ erzählt. So zeichnet er eine zugespitzte melodramatische Opfergeschichte, die in ihrer Schärfe jede Möglichkeit einer politischen Kritik der Verhältnisse verstellt. Die schwedischen Männer, die das Angebot „Lilja“ nachfragen, bleiben Randfiguren, die zerstörten Beziehungen in Russland Symptom umfassender Entfremdung. Der Zuschauer kann sich demzufolge im Kino entweder gruseln und moralisch empören – produktiv ist beides nicht. Anders als bei von Triers abstrakten Zeichenspielen, die in ihrer Modellhaftigkeit nur auf sich selbst verweisen, wäre von Moodysson wegen seiner realitätsgesättigten Thematik ein politischer (aufklärerischer) Impuls zu verlangen. Die zugespitzte Dramaturgie des Melodrams, die allzu schematisch eine lückenlose Abfolge menschenfeindlicher Ausbeutungsverhältnissen entwirft, verstellt diese Option strukturell, weil sie keine noch so geringe Chance alternativen Handelns denkbar werden lässt. Gerade deshalb ist der „Rammstein“- Rahmen des Films fatal: seine Wahl verweist nicht auf die Filmfigur – Lilja hört im Film andere Musik –, sondern auf Moodysson selbst. Dadurch erhält der Song eine Kommentarfunktion, die sich in der hohlen Pathosformel einer bloß behaupteten existenziellen, de facto oberflächlichen Pose erschöpft. Der mühsam hergestellte Eindruck der Authentizität, der die Fallhöhe des Gezeigten ausmacht, gerät durch diesen Rahmen in den Geruch des Manipulativen, was die auf Mitleid zielende Passionsgeschichte auf zynische Weise in eine masochistische Erfahrung auswegloser Schicksalhaftigkeit umschlagen lässt.

(Kritik aus film-dienst Nr. 25/2003)


Oksana AkinshinaLilja
Artyom BogucharskyVolodya
Lyubov AgapovaLilja's Mother
Liliya ShinkaryovaAunt Anna
Elina BenensonNatasha
Pavel PonomaryovAndrei
Tomasz NeumanWitek (as Tomas Neumann)
Anastasiya BedredinovaNeighbor
Tõnu KarkSergei
Nikolai BentslerNatasha's Boyfriend
Aleksander DorosjkevitchFriend #1
Yevgeni GurovFriend #2 (as Jevgeni Gurov)
Aleksandr SokolenkoFriend #3
Margo KostelinaCashier #1
Veronika KovtunCashier #2
Genre: Drama
Media: DVD
Sound: Dolby Stereo